Lange habe ich gezögert, mit schlechtem Gewissen. Endlich habe ich einen Tag gefunden, an dem ich sonst nichts Wichtiges vorhabe, egal wie es ausgeht. Zehn Minuten oder drei Stunden. Ich besuche die ehemalige treue Zugehfrau meiner verstorbenen Mutter im Pflegeheim. Ein Parkplatz findet sich direkt, ein gutes Omen, denke ich. Im Heim verlaufe ich mich zunächst, ich weiß nämlich nicht, wohin, und dann sagt man mir, die gesuchte Dame sei gar nicht bei ihnen. Nach einem Telefonat stellt sich aber heraus, doch die ist im anderen Stockwerk.

In der Teeküche soll sie sein. Ich gehe hinein, etwa acht ausdruckslose Gesichter brüten dumpf vor sich hin, zwei schauen mich kurz an und wieder weg. Welche von denen könnte es sein? Frau E. hatte immer einen wilden Lockenkopf. Hier sitzen alle mit bravem weißem Topfschnitt und Seitenscheitel. Die Hälfte fällt weg, das sind Männer. Die anderen? Ich muss fragen. Man zeigt sie mir. Sie kennt mich nicht.

Ich rücke mir einen Stuhl hin und versuche, ein Gespräch mit der Dame zu führen. Das heißt ich rede und sie schaut vor sich hin. Sehr gelegentlich murmelt sie etwas über einen Arzt, der hier sei und aber nicht immer hier sei. Das trägt zum Gespräch wenig bei. Ihre Stimme ist total verhuscht und furchtbar leise. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit der richtigen Person spreche. Nichts an ihr erinnert an die mir bekannte, liebe Person, die mir immer Käse-Sahne-Torte zum Geburtstag gebacken hat. Eine ganze. Die mein Meerschweinchen betreut hat, als ich klein war, die 30 Jahre bei meinen Eltern gearbeitet hatte.

Ich zeige ihr verschiedene Bilder, von mir, wie ich noch jung war und meine lange braunen Indianermähne hatte. Von unserem Haus. Von meiner Mutter, von meinem Vater. Von meinen Söhnen. Schließlich von meinem Ex. Ich sage dazu, meine Mutter wollte ja nicht, dass ich den heirate.

Plötzlich ist das Licht angegangen in Frau E. „Deine Eltern, die hatten ja schon die Weisheit mit Löffeln gefressen. Die waren von allem schon sehr überzeugt. Mit dem Herr Doktor ging es ja noch, mit dem bin ich zurechtgekommen, aber die Frau Doktor konnte schon anstrengend sein. Du solltest ja den Prinz Charles heiraten, ich weiß noch. Aber du warst oft ganz schön stur. Das war auch gut so. Wenn man bei denen nicht stur war, ist man nicht weit gekommen“

Sie ist wieder da, wie schön! Leider gibt es jetzt Essen. Ich störe da bloß. Ich habe ein Bild mitgebracht, das ich ihr zur Erinnerung in ihr schönes, sonniges Zimmer bringe. Während ich es mit der Schwester aufhänge, frage ich nach. Nein, von den etwa 20 Verwandten (von denen ich weiß) seien bisher erst zwei zwei- oder dreimal dagewesen. Und das in fünf oder sechs Monaten. Die Tochter, die sie angeblich habe, sei überhaupt noch nie dagewesen. Sowieso erkenne die Frau E. nie jemanden. Man könne nichts mit ihr reden, sie verstehe gar nichts, sie wisse nichts mehr, sie erinnere sich an nichts.

Zum Abschied gebe ich ihr die Hand. Die hält sie mit großer Festigkeit und sagt von ganzem Herzen „bleib mir gesund, Manela!“. Da muss ich sie umarmen, mir egal, wer jetzt alles blöd schaut. Sie weint. Ich weine. „Komm recht bald wieder, Manela!“ und zum Abschied winkt sie mir durch die Glastür. Nach einer Stunde 15 Minuten fahre ich nach Hause, den Kopf voller Erinnerungen.

© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.