Ich besuchte meine Mutter im Krankenhaus. Sie hatte eine schwere Gehirnblutung gehabt und keinen Lebenswillen mehr. Am liebsten wollte sie jetzt schnell aus dieser Welt gehen. Soviel ich auch auf sie einredete, lehnte sie ab, noch irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen. Seit drei Tagen aß sie jetzt schon nicht mehr.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich ihr von dem, was ich heute erlebt hatte. Ich wusste, dass meine Mutter einen Narren gefressen hatte an den Vögeln in unserem Garten. Sie hatte die Amseln Erich und Erika getauft und liebte die herrlich singenden schwarzen Vögel ganz besonders.
Heute hatte ich etwas entdeckt, das musste ich meiner Mutti berichten. Ich hatte das Fenster geöffnet, um das Staubtuch auszuschütteln, und da sah ich, wie Erich aus einem Busch hervorkam. Er schaute mich sehr genau an, legte seinen Kopf auf die eine Seite, dann auf die andere, wie Vögel das tun, und behielt mich stetig im Blick. Dann wendete er sich um, gab ein Zeichen, und aus dem Busch heraus trat, langsam und etwas unsicher, eine andere Amsel, klein, etwas dicklich, da ganz aufgeplustert und heller als der Erich. Voll Besitzerstolz hatte sich Erich mir wieder zugewendet und mir seinen Sohn vorgestellt. Ich dankte ihm für sein Vertrauen zu mir und freute mich sehr.
Als ich die Geschichte von dem Familienzuwachs meiner Mutter erzählte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Dann sagte sie: Den muss ich sehen! Komm, schieb mir mal das Tablett mit dem Essen rüber.
© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.