Amarilla hatte sich einen Wecker gestellt. In fünf Minuten wollte sie das Haus verlassen und sich mit Ernesto treffen. Sie zog ihre Lippen noch sorgfältig mit dem Lipliner nach und tupfte mit einem Taschentuch ab, reinigte ihre Fingernägel, wusch sich danach die Hände, kämmte nochmal ihre Haare, warf einen letzten Blick auf ihre nackten Beine in den Pumps, rasierte rasch ein einzelnes Haar ab, das verwegen abstand, obwohl alle anderen brav unter der Sense eingeknickt waren, und knöpfte vor dem Spiegel ihren feschen Blazer zu, damit er ja nicht schief säße.
Auf einmal fiel ihr ein: für wen machte sie das eigentlich? Für Ernesto, der sich vor den Treffen nicht mal die Zähne putzte, nur sehr gelegentlich duschte und bestimmt wieder ganz schmutzige Schuhe anhatte? Auf der Hose konnte man meist Fettflecken von seinem letzten Frittenkonsum erkennen. Wieso tat sie das eigentlich? Für ihn oder für sich?
Sie stellte fest, dass sie es für ihn tat, wenn sie ganz ehrlich war. Für sich selbst musste sie nicht perfekt sein. Und plötzlich überkam sie die Wut. Sie nahm ein weiteres Tuch, wischte sich den Lippenstift vom Mund, schmierte eine Kajallinie rund um die Augen, die am rechten Auge anders wurde als am linken, wühlte mit beiden Händen in ihren Haaren, zog den Blazer aus und eine grobgestrickte Jacke an, die gemütlich, aber nicht sonderlich fein war. Schlüpfte aus den Pumps und zog die bequemen Birkenstock-Latschen an. Dann packte sie die Sachen aus der feinen Handtasche in ihren kleinen praktischen Rucksack und trat vor die Tür. “Take it or leave it. Wenn du heute irgendwas Falsches sagst, war es das, Ernesto! Ab sofort bin ich ich – genau so, wie ich grade sein mag und nicht, wie du mich haben willst. So.“
© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.