Schlagwort: Hirsch

Hirschin?

Natürliches Habitat

Emil schwamm mal wieder. Alles schwamm in diesem Büro. Keiner wusste genau, was er tun sollte, noch wer die angefangenen Arbeiten im nächsten Schritt weiterbearbeiten würde. Mit dem restlichen Vorgang wurde irgendwie stets ein anderer betraut, so dass die linke Hand nicht wusste, was die rechte tat.

Emil hatte hier lange zugesehen und war der Einzige, der die Dinge halbwegs unter Kontrolle hatte, denn er hatte ein phänomenales Gedächtnis. Hatte er irgendeinen Arbeitsablauf bereits einmal erledigt, der so ähnlich war wie das anstehende Problem, das er jetzt lösen musste, so konnte er sich jedes noch so kleine Detail ins Gedächtnis rufen. Da es damals geklappt hatte, würde es auch diesmal in genau derselben Weise funktionieren. So war er der Einzige in der Arbeit, der stets gut gelaunt war und schräg vor sich hinpfiff, was die anderen mit Befremden zur Kenntnis nahmen, auch wenn sie es akzeptieren mussten. Denn Emil wurde oftmals vom Chef gelobt.

An Weihnachten wollten sie ihm aber alle einmal zeigen, was sie von ihm hielten. Am letzten Tag stand ein Päckchen auf seinem Tisch, eingewickelt in ein billiges Nullachtfuffzehn-Papier. Darin befand sich ein Briefbeschwerer aus Messing in Form eines gehörnten Waldbewohners. Auf der dazugehörigen Karte stand in aus der Zeitung ausgeschnittenen einzelnen Wörtern bzw. Buchstabengruppen: „Sie sind der Leitwolf in dieser Suppe, selbst wenn Sie ein Hirsch sind“. Während ihn alle heimlich beobachteten, überlegte Emil sich, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Er musste erstmal die Feiertage drüber schlafen.

Am ersten Tag nach dem Betriebsurlaub erschien er in braunem Anzug im Büro mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf und allerbester Laune. Wie du und ich hatte er schon als Kind gelernt, genau so zu werden, wie es die anderen von ihm behaupteten und diese Nische vollends auszufüllen. Er setzte sich an seinen Tisch und bellte heiser.

Hirsch mit Kind

Möge dieser Hirsch an uns vorübergehen

An jenem Morgen betrat der Hirsch mit seinem stolzen Gang, hocherhobenen Hauptes den Waldrain und stakelte und tänzelte unbeschwert in gewohntem Selbstbewusstsein über die geheime Glitzerwiese, auf deren Taumantel gerade die allererste Ahnung des Tages fiel. Er war ganz der Herr jedweden Reviers dank seiner uneingeschränkten Selbstermächtigung, die er sich vor langer Zeit erteilt hatte, als sein Geweih gerade das 8. Ende entwickelte, dessen zarte Knospe damals noch so klein war, dass sie juckte. Mit einem Schlag hörte das Vogelgezwitscher auf, die Luft wurde ganz leer, kühl und dunkel. Man merkte, der Eigenbrötler war den anderen Waldbewohnern nicht ganz geheuer.

Sie bauten jedoch darauf, dass er ein seltener Besuch bleiben möge, der ansonsten ja im Reich der Nebelbänke umherzog und sie völlig in Frieden ließ. Sie hatten lange für ihre Freiheit gekämpft und wollten sich nicht einschränken lassen dadurch, dass der Hirsch plötzlich womöglich den Vollbesitz der waldlichen Heilkräfte, Ruhe und Weisheit als sein Geburtsrecht ansah. Sicherheitshalber verstummten sie also lieber und mucksten sich eine Weile nicht, bis er vorbeigezogen war.

In diesem diffusen Zustand warteten sie mucksmäuschenstill in ihren Verstecken in der Natur und hofften, er werde den Wunder-Samen nicht entdecken, der nur hier wuchs, und der für sie alle der Grund ihres Aufenthalts in genau diesem Waldstück war. Der Hirsch, der nicht von hier war, könnte einfach so daran vorbeigehen, das war ihrer aller Hoffnung, während sie atemlos vorsichtig von der Zuschauerbank hinter dem nächsten Baumstamm hervorlinsten, und sofort wieder hinter diesem verschwanden, damit er sie nicht bemerke.

Und wirklich hatten sie alle Glück: der große Störenfried zog gruß- und geruchlos weiter, ohne den Wunder-Samen zu entdecken und ohne das Tor zu durchschreiten, das hier ganz weit offen steht in die Welt der uneingeschränkten Klarheit, des Neubeginns und der Veränderung und das sie dir und mir beschützen und offenhalten. Kaum war der 16-Ender vorbeigezogen, kamen alle hervor und die Gemütlichkeit und Geselligkeit kehrte zurück. Sie wussten, gleich würde die Sonne hervorkommen und das Leben in Leichtigkeit weitergehen.

© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

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