Ein weiterer Morgen auf La Palma, versuchsweise wieder auf der Terrasse mit Ausblick auf meinen Kalender, der mich gleich dazu anhält, mir die wirklich wichtigen, vor allem ganz neuen Fragen zu stellen. Mein Ist-Zustand jedoch: Nach zehn Stunden Schlaf bin ich immer noch groggy. Die Krankheit ist noch nicht ausgestanden, aber auch heute Nacht habe ich weiter dran herumgeschwitzt, um ihr Einhalt zu gebieten. Mein Körper weiß wenigstens im Gegensatz zu mir, was er tut. In einem fröhlichen luziden Fiebertraum habe ich heute alle in der neuen Küche falsch bestellten Teile einfach geschenkt bekommen, aber in echt steht die Küche daheim genauso da wie bei der Abreise. Was wären denn die Fragen, die mir da so einfallen?
Ich habe mich ja in den letzten drei Jahren, in denen ich mich auf den Weg begeben habe, den ganz großen Fragen gestellt, als da z.B. wären: Gibt es Gott? Was ist die Seele? Gibt es Gut und Böse wirklich? Wodurch unterscheiden sie sich? Wo verläuft mein Weg? Was ist mein Ziel? Meine Vision? Was sind meine wahren Absichten? Kann ich die noch schärfer schleifen? In wie weit tut mir das noch gut? Was ist Glück? Woher komme ich? Wohin gehe ich, wohin gehen wir, wohin geht alles? Wieviel von mir ist Tier? Beim Übersetzerstudium lernte ich, Lebewesen sei zu übersetzen mit “man and other animals“. Eine ganz andere Sichtweise, als die des hochmütigen Deutschen.
Heute, aus dem heraus empfindend, wie ich mich gerade im Moment fühle, würde ich anfangen, ganz kleinformatig, demütig und kleinlaut zu fragen, kleine Indizien zu untersuchen, unsinniger zu fragen, absurder zu fragen, denn in der Auslotung des Absurden liegt oft ein nicht unbedeutendes Quäntchen an Wahrheit, die sich sonst niemals erschließt. Z.B. wenn ich so auf das Meer vor mir schaue, das mit deutlich erkennbaren Schaumkronen von links nach rechts drängt: Gibt es auch Orte, an denen die Mitte des Ozeans nicht, wie hier offensichtlich, links ist (rechts ist ja die Küste und das Meer prescht immer auf die Küste zu)? Dies ist an sich eine blöde Frage, denn wenn ich rechts von dieser Landzunge stehe, kommt das Meer dann von rechts nach links geflossen. Dann habe ich schon mal den Mittelpunkt des Ozeans gedreht. Durch mein Hinübergehen also quasi. Ja, ich weiß, das ist nicht wissenschaftlich. Gleich hast du über 20 verschiedene Abers parat, die du aus dem Ärmel auf meinen Frühstückstisch streuseln kannst.
Noch weniger wissenschaftlich wird es, wenn ich sage: aber, wenn ich meinen Standpunkt um 180 Grad ändere (dabei wird mir möglicherweise übel), kommt das Meer dann von der anderen Seite. Und somit habe ich den Mittelpunkt des Ozeans verlagert. Ich, der Zwerg. Wie kann ich, der Zwerg, Einfluss auf den Mittelpunkt des Ozeans haben? Andererseits, wieso nicht, wo doch ich, der Zwerg, Einfluss auf das Verhalten von Materie habe, die sich nur zeigt, wenn ich hingucke und sich ansonsten als Welle durch die Gegend schlängelt, wenn ich die Augen zu habe. Ich manifestiere sie also immer wieder, jedes Mal, wenn ich ihr die Ehre erweise, sie anzuschauen, erweist sie mir die Ehre, vor mir strammzustehen. Ist das nicht mehr als crazy? Also ändere ich auch mal flugs den Mittelpunkt des Ozeans. Ich mach mir die Welt widewidewitt wie sie mir gefällt!
Solche Fragen mit all ihren Trugschlüssen und das Schauen in den Kühlschrank, in dem kein Bier steht, zu sehen, dass keines drin ist, und dann trotzdem zu behaupten, es sei eins drin in all seiner Esoterik lassen mich wollüstig erschauern. Sie bereiten mir eine maliziöse Freude, und ich ergötze mich daran, wie blödsinnig und gleichzeitig tiefschürfend sie sein können. Wie haltlos und tief verankert im selben Gedankengang.
Weniger komplex sind Fragen wie: warum tut man sich eigentlich dämliche Erlebnisse mehrfach an? Falsche Menschen, schiefgegangene und längst verworfene Herangehensweisen, Pilleneinnahme auf nüchternen Magen, obwohl man auch die letzten drei Mal davon brechen musste?
Was wäre, wenn das Frühstück die einzige Mahlzeit am Tage bliebe? Dann könnte ich ja mein Ziel, schlanker zu werden, in Nullkommanix erreichen. Wie lange hält so ein Vorsatz? Bis 15 Uhr oder länger?
Welcher Pumuckl oder welcher verstorbene Ahne von mir (oder Ahnin) lässt immer Sachen verschwinden, die ich gerade irgendwo für die sofortige Verwendung hingestellt habe? Was wäre, wenn ich einfach das als Hinweis annehme und künftig ohne die auskomme? Ab sofort keine Zitrone mehr für den Avocado, nie mehr Süßstoff in den Kaffee?
Wenn alles, was gerade nicht funktioniert, nicht mehr in Betrieb genommen werden muss? Wasch dich in Zukunft halt einfach nur noch kalt. Wasch die Haare dann halt nicht mehr. Koch nicht nur einen Kaffee für heute und morgen, also pro Tag dann eine Tasse – eine warme und eine kalte – sondern gar keinen mehr, koche einfach überhaupt nichts mehr? Das Handy will grad nicht laden, weil ich jedes Mal vergesse, den Stromschalter an der Steckdose einzuschalten, vielleicht soll es ja gerade so sein. Statt aufs Handy kann ich ja mal wo anders drauf glotzen. Oder in mein Buch schreiben. Per Hand dann halt. Da sei die Verbindung zum Gehirn noch enger. (Diesen Text hab ich mit der Hand vorgearbeitet).
Was will mir das sagen – probier es doch einfach mal anders aus? Brauchst du das überhaupt noch?
Meine beiden Abreißkalender mit Sprüchen hatte ich normalerweise überall dabei, wo ich hinfuhr. Dann habe ich auf einer Fahrt von München nach Ingolstadt die Kalender zu gut weggepackt. Ich habe sie erst kurz vor meiner Abreise nach La Palma nach ewiger Suche wiedergefunden. Sie waren in der Laptoptasche, wo ich sonst nie etwas hineintue. Und die ich halt nur verwende, wenn ich reise. Und die Erkenntnis dabei war eigentlich: Ha, ich bin nun bereits hinreichend geschult, dass ich diese Sprüche nicht mehr brauche. Ich könnte sogar meinen eigenen Kalender mit derartigen Sprüchen herausgeben. Ich habe über so viele Dinge nachgedacht, an mir gearbeitet, in mich hineingeschaut. Trotzdem habe ich mir nochmal so einen Kalender gekauft. Das Interessante daran ist, dass man z.B. drüber schreiben kann.
Ich habe Zugangsdaten von Portalen verloren und schließlich festgestellt: ich brauch da ja auch gar nicht mehr rein. Ich bin weitergekommen, als ich damals war. Ich hab mich selbst und die anderen dort überholt.
In der Weihnachtszeit habe ich festgestellt, ich suchte nach manchen Leuten in meiner kilometerlangen Bekanntenliste auf WhatsApp, weil ich nicht mehr wusste, wie sie heißen, aber halt doch wusste, wen ich meine. Einen Gruß wollte ich schicken. Aber warum will ich eigentlich einen Gruß schicken, wenn ich die Namen nicht mehr abrufen kann? Wer kann aus meinem Leben gehen? Wenn sie einen Gruß an mich schicken wollten, könnten sie das ja ihrerseits auch tun. Normalerweise bin ich der Kleber, ich halte alles zusammen und wecke alle schlummernden Karteileichen immer wieder auf. Warum eigentlich? Wenn das ganze Jahr von den anderen nie ein Lebenszeichen kommt, warum denke ich dann an sie an Geburtstag, Feiertagen und wenn ich in Urlaub bin? Wer bin ich denn, und wenn ja, wie viele? Wer hat noch Aufenthaltsberechtigung in meinem Leben? Wer darf einen Neuantrag stellen?
Viel trivialer wirkt hingegen die Frage: wie kann ich Zähneputzen oder vor allem: essen, ohne bei jedem 2. Mal niesen zu müssen? Ich wäre so die Horrorvorstellung eines jeden Japaners – wenn die Großnaserten beim Essen auch noch das Schneuztuch schwenken, wird es für sie extrem unappetitlich. Das gehört sich absolut nicht. Sagte mir mein japanischer Brieffreund damals auf seinem Besuch in München. Da war ich noch ganz jung und hatte einen Tellerrand als Horizont, somit ist mir damals nicht einmal aufgefallen, dass er extra wegen mir aus Japan gekommen war, um mich, nachdem ich ihn ein paar Jahre zuvor in Schottland kennengelernt hatte, wiederzusehen. Für mich war das damals ein Ding der Selbstverständlichkeit, wenn ich es rückblickend betrachte, war es das auf keinen Fall, und es tut mir leid, lieber Shunji, dass ich das nicht wirklich gewürdigt habe. Meine Welt war damals so unglaublich klein und egozentrisch!
Das führt uns dann zu der Erkenntnis, die darin liegt, zu begutachten, wer – so wie Shunji konsequenterweise im Folgenden – aus unserem Leben herausgefallen oder -gesprungen ist, und warum. Aus freiem Willen, oder weil er geschubst wurde. In eine andere Wahrheit. Auf eine andere Ebene… Das Leben sieht dann rückblickend so aus wie ein ausgebreiteter Fächer. Über jeder Fächerrippe liegt eine weitere, und wenn man auf die nächsthöhere geklettert ist, ist alles so spannend und neu auf dieser Ebene, dass man ganz vergessen hat, was auf der vorherigen Rippe gerade noch so vor sich ging. Wie viele Rippen allerdings noch übrig sind, weiß man auch nicht.
Vom Thema Rippen zum Thema Brust – warum tut mir selbige weh, wenn meine Freundin sich einer Brust-OP unterzieht? Warum hatte ich Probleme mit meinem linken Auge, als mein Freund am Auge operiert wurde? Es ist mir klar, dass das Empathie ist. Aber auf solche Distanzen? Ist das nicht erstaunlich? In gleicher Weise, wie der Schmerz des anderen, seine Angst auf mich übergreift, muss ja auch meine gute Energie von hier nach dort kommen. Schneller als Lichtgeschwindigkeit.
Ich glaube fest daran, dass meine aufmunternde gehobene Schwingung, die ich jemandem sende, bei ihm landet, wenn er sie haben will, wenn er aufnahmebereit ist, bereit, sie zu spüren, darauf eingehen möchte. Und ich sende viel davon. An meine Freundin, an meinen Freund, auch an Fremde, oder neue Bekannte. Und momentan erhalte ich auch gute Energie. Manchmal ist mir fast ein bisschen zum Weinen, da habe ich das Gefühl jemand denkt gerade sehr intensiv lieb an mich und möchte, dass es mir besser geht. Das ist schön. Ich fühle es. Ich kann nicht sagen, wer es ist, aber es kommt zu mir.
Weniger schön sind Fragen wie: warum fallen uns allen so viele Haare raus, und wo kommen die alle hin? Eigentlich müsste ja auf den Straßen in jeder Ecke ein Gewölle liegen. Gibt es irgendwo auf der Welt eine Gewölleabgabestelle, wo ein riesiges unordentliches Zottelknäuel aus Haaren aller Menschenhaarvarianten zusammengeknüllt vor sich hin wallt und wogt, oder werden die irgendwie verbrannt? Das wäre eine unschöne Geruchsbelästigung. Sie zersetzen sich ja nicht so schnell. Welche Klein, Winz- oder Mittelgroßorganismen auch immer sie zerlegen, zersetzen, in Nester einarbeiten oder in die Erde verschleppen, die können doch nicht so flink sein, das alles spurlos verschwinden zu lassen. Das rieselt doch ohn Unterlass.
Überhaupt – wieviel Eigenmaterial in Form von Hautschuppen habe ich im Lauf meines Lebens in irgendwelchen Betten hinterlassen? Da liegen bestimmt mehrere Manus weltweit allenthalben. Und auch von dir liegen mehrere Varianten. Und von allen anderen. Wir vermischen uns da überall und leben in engster toter Harmonie als Schuppenmischungen. Europäische, amerikanische, australische… Palmerische mit einer Prise Manu oder Bayerische mit einer Prise Shunji, noch von damals, falls nicht vom Winde verweht.
Gibt es denn einen Ort, an dem man ganz schuppenfrei nur man selbst sein kann? Auf einem Berggrat im schneidenden Höhenwind? Oder wirbelt der auch von unten Reinhold Messner und Konsorten in die eigene Aura? In einem hermetischen Vakuum würde ich mich nicht wohlfühlen, das wäre auch nicht artgerecht. Es gibt da keinen Sauerstoff und die Zellen würden sofort explodieren, da kein Druck vorhanden ist. Also lieber in der Schuppenmischung weiterleben und sich nicht weiter vorstellen, wie das ist mit den ganzen Milben und so…
Jetzt, wo ich Milben gesagt habe, fängt es natürlich an, dich zu jucken. Ich wende mich also lieber anderen Themen zu: Der wichtigen Frage, warum Limonade aus dem Kühlschrank so herrlich erfrischend und lecker schmeckt, und wenn sie einfach warm in der Küche herumdümpelt, ätzt sie den Hals hinunter wie die letzte, falsch abgeschmeckte Plörre. Außerdem: wer stellt eigentlich die ganze Wohnung so voller leerer Gläser, und wer verrutscht immer all diese kleinen Teppiche? Warum bin ich gerade so schwach und siech?
Ich glaube, jetzt habe ich euch die Welt klein genug gedacht und geredet und ihr hofft inständig darauf, dass sich mein Denkanfall sehr bald wieder legt, ich wieder das Haus verlasse und die Welt für euch erkunde und nicht nur im Sitzen oder Liegen meine Gedankenkonstrukte weben muss.
Dann habe ich ja erreicht, was ich wollte: bitte schickt mir eure guten Gedanken, lasst mich mit eurer Energie ratzdifatz gesund werden, damit ich wieder aufstehen kann und sich der Blickwinkel krass erweitert. Und nun erstmal wieder gute Nacht um 14:56, ich bin total fertig von diesen anstrengenden Überlegungen. Ach übrigens hätte ich eigentlich jetzt Hunger!
Noch eins, zum Thema Esoterik, die Zweite (bitte einfach weglesen, wenn Euch das zu viel des Guten ist): gestern stellte ich fest, dass ein Stern mich offenbar verfolgt, den mein Freund beim Videotelefonat bereits hinter mir als auffälliges Element entdeckt hatte. Ich machte nämlich eine Meditation von Veit Lindau, und am Ende fragte ich meine Seele, sie solle mir sagen, was ich wissen solle, denn ich war in der Meditation so weggetreten, dass ich nicht mehr wusste, ob ich schlief oder noch irgendwo dabei war.
Also sprach meine Seele aus mir in einer Affengeschwindigkeit und Intonation leiernd in die Diktierapp, als läse sie gelangweilt von einem Zettel ab: “Auf dem Feld der unendlichen Möglichkeiten hast du die eine gewählt, die die richtige ist. Die Würfel sind gefallen, und du hast es im Vorab immer gewusst, dass es soweit ist. Diese Tage sind die letzten, in denen du nicht bestimmst, was du tun sollst, es ist alles vorgegeben. Deine Pläne wären nichtig, wenn du ihnen folgen würdest. Du musst nichts weiter tun als abwarten, es kommt alles auf dich zu. Ein Zeichen dafür ist der Stern in den Wolken und der Stern in deinem Fuß (!). Mädchen, begib dich ans Fenster!”
Und draußen vor dem Fenster, genau vor meinem Zimmer im Mittelpunkt des Fensters stand riesengroß der Stern und tropfte in die Schale der waagrecht liegenden Mondsichel. Meine Kamera hat das leider nicht ausreichend gut dokumentieren können, der Mond sieht auf dem Bild aus wie ein Vollmond, aber es war so. Das führt mich jetzt zurück zu den großen Fragen. Den ganz großen.
© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.
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