Und wieder hat die Insel über meinen Kopf hinweg entschieden, was ich zu wollen habe. Ihr erinnert euch an meine erzwungenen Vulkanbegegnungen. Heute durfte ich zunächst noch frei entscheiden und zum Markttreiben in Puntagorda fahren. Ich habe allerdings mehr fotografiert als gekauft. Das lag auch hauptsächlich daran, dass es da insbesondere Obst, Gemüse und Kuchen gab, weniger andere Sachen – nur ein bisschen Kunstwerkhandwerk und bedruckte T-Shirts. Frische Maracujas kaufte ich aber gerne. Mit einem Stück Kuchen und einen Ginseng-Kaffee mit Meringue-Eis saß ich dann glücklich nach langem Anstehen auf der Terrasse und fühlte mich durch den Ginseng gleich unsterblich.

Eindrücke vom Markt in Puntagorda. Aus den Chilischoten macht man dann den berühmten Mojo - eine scharfe Sauce
Eindrücke vom Markt in Puntagorda. Aus den Chilischoten macht man dann den berühmten Mojo – eine scharfe Sauce

Allerdings sollte ich partout nicht ins wunderbare Tal schauen. Ein einzelner, optisch herausstechender Stuhl wartete tischlos auf mich mit Blick auf ein nur wenig tiefer liegendes Gelände. Alles Sonstige war besetzt. So wurde ich visuell weniger abgelenkt und meine Aufmerksamkeit richtete sich mehr auf die Geräusche. Da war so etwas wie das Surren von einer sehr lauten Drohne. Es wiederholte sich. Aber es war gar keine Drohne! Da sauste ein Mensch von rechts nach links durch das Tal! Beim nächsten Mal bekam ich es besser mit. Der Mensch hing an einer Leine.

Das musste ich auskundschaften! Ich verließ die Halle und ging in Richtung des vermuteten Anfangs des Metallseils. Gefunden! Ein Aussichtspunkt, vor dessen durchsichtiger Glaswand sich ein sehr sehr tiefer Abgrund auftut. Ich stellte fest: Heute hatte ich keine Angst. Mit Abgründen war es bisher immer so gewesen, dass ich mich da unglaublich zusammenreißen musste, weil ich so ein Bedürfnis bekam, einfach mal so auf die Schnelle runterzuhüpfen – so quasi, um mal kurz eine Runde zu fliegen. Natürlich ist mir klar, dass das wenig erfreulich enden würde. Es hat aber gar nichts damit zu tun, dass ich etwa lebensmüde wäre, vielmehr habe ich diesen seltsamen Reflex bereits seit meiner Kindheit.

Wie so eine Fahrt mit der Tirolina aussieht und wie tief der Abgrund genau hier ist
Wie so eine Fahrt mit der Tirolina aussieht und wie tief der Abgrund genau hier ist

Infolgedessen habe ich heute ernsthaft überlegt, ob ich die längste „Tirolina“ der Kanaren, die ich hier durch Zufall entdeckt habe, für die läppischen 25 € ausprobiere. Was mich zurückhielt, war nicht eine Angst, hinunterzuspringen, das hatte ich ja schon so oft fast getan, sondern eine Angst, dass durch den Rückstoß der Bremsung am anderen Ende die Metalleinbauten in meinem Rücken verrutschen könnte. Ich habe meinen lieben Arzt in Dubai per WhatsApp um Rat gefragt, ob ich sowas machen dürfte, aber er hielt die Frage wohl für so absurd, dass es sich nur um einen Scherz handeln könne, jedenfalls habe ich keine Antwort darauf bekommen.

Und dann wurde ich für dieses Mal, als ich mich gerade dazu durchgerungen hatte zu sagen: „ich tu’s!“ weiterer Überlegungen enthoben, da die Betreiber der Anlage ankündigten, dass sie jetzt schließen und ich nicht mehr fahren kann. Somit musste ich irgendetwas anderes mit dem angefangenen Tag machen. Ich hatte ja gehört, von Puntagorda nach Garafía oder Las Tricias zu fahren, könne ganz nett sein. Somit schlug ich den Weg weiter nach Norden ein. Das Schild nach Las Tricias tauchte jedoch so unverhofft auf, dass ich schon vorbei war, als ich es erkannte. Tja, dann sollte das halt heute nicht sein. Irgendwann wurde es dann komisch. Ich folgte einem Schild nach Garafía, wich dem Roque de los Muchachos, dem höchsten Berg der Insel (2426 m) mutwillig aus. Ich fahre doch nicht hoch in die Berge, ich bin doch nicht wahnsinnig! Ich bin eine Meerliebhaberin. Außerdem war da oben ja gerade ohnehin alles wegen Schneewarnung geschlossen, las ich gerade noch in den Inselmedien.

Ich kurvte also weiter den Berg hinunter, Serpentine für Serpentine. Irgendwann kamen keine für mich aussagekräftigen Ortsangaben mehr, ich kannte weder das eine noch das andere. Also zückte ich das Handy und gab im Navi „Garafía“ ein. Umkehren, nur sechs Minuten, sprach es. Hä? So nah? Ich schien es total übersehen zu haben. Also fuhr ich die ganzen Serpentinen wieder nach oben. Da kam das Roque-de los-Muchachos-Schild wieder, und genau da schickte mich das Handy hinauf. Nach sechs Minuten sagte mir das Handy „Sie haben Ihr Ziel erreicht“. Weit und breit kein Mensch, kein Haus und natürlich kein Garafía!

Da habe ich verstanden! Auf meinem Kalender stand heute: Ruf das Leben und gib dich hin! Das klappte nur zu gut. Wenn ich schon nicht gegen meine Abgrundspring-Dämonen vorgehen wollte, hatte ich heute den Kampf gegen die Bergscheu-Dämonen auszufechten. Ich suchte also nicht weiter nach diesem unauffindbaren Ort. Ich bin sicher, er wird sich mir ein anderes Mal freiwillig zeigen, genauso wie das bei Los Llanos passierte. Die Serpentinen wurden enger, die Straße auch. Gestein lag auf der Fahrbahn, Löcher rumpumpelten unter meinen Reifen. Habe ich schon mal erwähnt, dass Schlaglöcher hier in manchen, weniger gepflegten Straßen so groß sein können, dass der Reifen darin komplett versinken könnte? Man muss also sehr gut aufpassen.

was mir unterwegs auffiel. Der Vogel kackte mir direkt vor die Füße, was möglicherweise Glück bringt oder eine Art war, mir beizubringen, wie ich es denn mit meinen Plänen zu halten hätte.
Was mir unterwegs auffiel. Der Vogel kackte mir direkt vor die Füße, was möglicherweise Glück bringt oder eine Art war, mir beizubringen, wie ich es denn mit meinen Plänen zu halten hätte.

Die Vegetation hier würde wie Zunder brennen, wenn einer eine Zigarette unachtsam wegwürfe, dachte es in mir. Auf der Insel wird auch in den Nachrichten davor gewarnt, mit dem Auto in eine Wiese zu fahren, da der heiße Auspuff die vertrocknete ehemalige Grünpracht zum Brennen bringen könnte. Wenig später änderte sich das Bild, und auf einmal lag da jede Menge Schnee! Aber die Straße war heute geöffnet, besagte ein Schild. Ich hatte es also richtig gefühlt: ich musste hoch bis ganz oben. Nein, die Touristenstation war nicht gemeint, sie schloss nämlich 21 Minuten nach meiner Ankunft, so dass ich auf den Museumsbesuch verzichtete. Höher, noch höher!

das futuristische astronomische Gelände
Das futuristische astronomische Gelände

Natürlich zeigte sich hinter jedem Gipfel, den ich für die Endstation hielt, ein weiterer, der noch weiter oben lag. An den riesengroßen Teleskopen und Observatorien ging es vorbei. Ich rief dort spontan an, ob man besichtigen könne, erst auf Englisch, dann auf Spanisch. Man nuschelte Unverständliches auf Spanisch und legte auf. Drei Anrufe verliefen mit demselben Resultat, dann hatte ich auch hier begriffen, mir war das heute nicht zugedacht. Bei allen Zufahrten zu den enormen technischen Wunderkonstruktionen, die surreal am Berghang klebten, stand „nur für Mitarbeiter“. Ich musste also noch höher hinauf.

Der Roque de los Muchahos und Umgebung
Der Roque de los Muchahos und Umgebung

Endlich ging es echt nicht mehr weiter. Nur noch wenige Meter zu Fuß hoch und dann wieder auf der anderen Seite hinunter. Die Aussicht war bombastisch! Ich genoss sie mit allen Sinnen. Hier oben war es nämlich sehr kalt. Der Leopardenmantel, den ich gestern überflüssigerweise am Hafen dabeigehabt hatte, hatte über Nacht zum Glück im Auto campiert, und heute durfte er fauchen. Mehr Existenzberechtigung als mit Manu im Schnee würde er auf dieser insel gewiss nicht mehr bekommen!

Ich (Letteratour) im ausgeklügelten Trecking Gear auf dem höchsten Berg der Insel
Ich (Letteratour) im ausgeklügelten Funktions-Trecking-Gear auf dem höchsten Berg der Insel

Und jetzt stand ich wieder am Abgrund. Diesmal war es aber in Ordnung, ich hatte keine Gelüste, hinunterzuspringen. Ich stand da ohne eine Spur von Schwindel und freute mich, auf dem Höhepunkt meiner Inselfahrt angekommen zu sein. Von da an ging es ja zwangsläufig nur noch bergab, aber ich hoffe auf viele weitere Highlights auf meinem Trip!

zwei fantastische Sonnenuntergänge unterwegs
Zwei fantastische Sonnenuntergänge unterwegs

Eben habe ich im Ort El Jesús in der Brauerei Isla Verde eine Komposition aus Lachs und geschmorten Birnen mit Reis und dazu ein süffiges „Indiana vom Fass“ kredenzt bekommen und für gut gefunden. So darf es weitergehen! Ich war eingekehrt, da die Sonne mir in vielen Straßenkehren genau in die Augen knallte, so dass ich Angst hatte, von der Fahrbahn abzukommen oder den Gegenverkehr nicht rechtzeitig zu bemerken. Nach insgesamt tatsächlich sechs Stunden Serpentinen stehen jetzt nur noch 35 weitere Minuten Fahrt im inzwischen Dunkeln an. Das Handy schläft den Schlaf des Gerechten, aber ich finde heim. Es hat sich überanstrengt und die Powerbank, die ich gestern extra für den heutigen Ausflug geladen hatte, pennt friedlich daheim auf dem Nachttisch.

Birnenfisch mit Fassindianer
Intakter Birnenfisch mit angetrunkenem Fassindianer

© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.