An jenem Morgen betrat der Hirsch mit seinem stolzen Gang, hocherhobenen Hauptes den Waldrain und stakelte und tänzelte unbeschwert in gewohntem Selbstbewusstsein über die geheime Glitzerwiese, auf deren Taumantel gerade die allererste Ahnung des Tages fiel. Er war ganz der Herr jedweden Reviers dank seiner uneingeschränkten Selbstermächtigung, die er sich vor langer Zeit erteilt hatte, als sein Geweih gerade das 8. Ende entwickelte, dessen zarte Knospe damals noch so klein war, dass sie juckte. Mit einem Schlag hörte das Vogelgezwitscher auf, die Luft wurde ganz leer, kühl und dunkel. Man merkte, der Eigenbrötler war den anderen Waldbewohnern nicht ganz geheuer.
Sie bauten jedoch darauf, dass er ein seltener Besuch bleiben möge, der ansonsten ja im Reich der Nebelbänke umherzog und sie völlig in Frieden ließ. Sie hatten lange für ihre Freiheit gekämpft und wollten sich nicht einschränken lassen dadurch, dass der Hirsch plötzlich womöglich den Vollbesitz der waldlichen Heilkräfte, Ruhe und Weisheit als sein Geburtsrecht ansah. Sicherheitshalber verstummten sie also lieber und mucksten sich eine Weile nicht, bis er vorbeigezogen war.
In diesem diffusen Zustand warteten sie mucksmäuschenstill in ihren Verstecken in der Natur und hofften, er werde den Wunder-Samen nicht entdecken, der nur hier wuchs, und der für sie alle der Grund ihres Aufenthalts in genau diesem Waldstück war. Der Hirsch, der nicht von hier war, könnte einfach so daran vorbeigehen, das war ihrer aller Hoffnung, während sie atemlos vorsichtig von der Zuschauerbank hinter dem nächsten Baumstamm hervorlinsten, und sofort wieder hinter diesem verschwanden, damit er sie nicht bemerke.
Und wirklich hatten sie alle Glück: der große Störenfried zog gruß- und geruchlos weiter, ohne den Wunder-Samen zu entdecken und ohne das Tor zu durchschreiten, das hier ganz weit offen steht in die Welt der uneingeschränkten Klarheit, des Neubeginns und der Veränderung und das sie dir und mir beschützen und offenhalten. Kaum war der 16-Ender vorbeigezogen, kamen alle hervor und die Gemütlichkeit und Geselligkeit kehrte zurück. Sie wussten, gleich würde die Sonne hervorkommen und das Leben in Leichtigkeit weitergehen.
© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.
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