Weiter geht es im Shavassier-Tempo. Wenn man es einen Tag krachen lässt und dann zwei Tage rumhängt und es sich einfach gut gehen lässt, erweitert sich eine Woche in Nullkommanix auf drei Wochen. Ich entdecke hier die Langsamkeit, versuche mal zu erfühlen, wie es ist, tatsächlich Zeit zu haben, das mit allen Sinnen zu genießen, ohne durch irgendetwas getrieben zu sein und irgendwas zu müssen. Aber durch diese Zeitverbreiterung, so als falte mein ein großes Tuch aus oder rolle einen Teigklumpen für ein ganzes Blech flach, bekam ich das Gefühl, dass mir leider „nur noch zwei Monate“ von den dreien bleiben, was mir ja doch anfangs als eine unglaublich lange Zeitspanne vorkam. Und dass mir zwei Monate eigentlich gar nicht mal reichen.
Nun sind schon fünf Wochen vorbei und ich habe gefühlt noch viel zu wenig von der Insel in Beschlag genommen. Ich bewege mich in kleinen konzentrischen Kreisen um meinen nächtlichen Aufenthaltsort, erschnuppere ganz geruhsam, was da gefunden sein will – auch in wissentlicher Übergehung von Angeboten, mache es mir zu eigen, so dass ich sagen kann, kenn ich, passt, jetzt brauch ich was Neues.
Kaum wurde mir bewusst, dass die Zeit eigentlich nicht reicht, scheint das Universum also von meinem mir selbst noch gar nicht bewussten Wunsch gehört zu haben und macht mir eine Tür auf. Judith, die Vermieterin schreibt, sie bleibt noch zwei Monate länger weg. Nun hat mein Gedankenkarussell begonnen. Was mache ich jetzt da draus? Ich könnte jetzt also auch noch zwei weitere Monate hier bleiben. Für mich selbst würde ich sofort, ganz ohne zu zögern, ja dazu sagen. Aber was macht das mit meiner Beziehung zu meinem lieben Daheimgebliebenen? Ein Dilemma. Mal sehen, wie sich das löst. Was würdet ihr an meiner Stelle tun, wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen würden?
Die eine der beiden Hausbesitzerinnen ist vorgestern ins Krankenhaus gebracht worden. Ich habe ihr jedenfalls eine Good-Will-Genesungskarte gepinselt und geklebt (habe keine Werd-bald-Gesund-Karte kaufen können) und hoffe damit jedenfalls gute Stimmung zu machen, dass sie weiterhin mit mir als Wohnungsbetreuung zufrieden sind.
Gestern hatte ich abends eine große Online-Meditation und morgens lange rumgeschrieben, da wollte ich in der Zwischenzeit nicht so weit weg. Von der Terrasse hörte ich lauten Wellenlärm, und das tagsüber, wo es hier nicht gerade so leise ist. Ich sah hinunter und konnte über die 3 km Entfernung bis zum Hafen riesenhafte Brecher sehen! Es beängstigt mich, wenn das Meer so tobt und wütet. Seit ich damals auf Gomera so winzig klein im Schatten der Berge direkt neben dem Meer stand und mich so vollständig unbedeutend auf dieser Welt fühlte, hatte ich einen Riesenrespekt vor dem gewaltig sich aufbäumenden Meer vor meinen Füßen bekommen, das so urgewaltig ist, dass der Mensch dem überhaupt nichts entgegenzusetzen hat. Wenn ich im Dunkeln auf das Meer schaue, bekomme ich immer so ein Gefühl wie eine falsche Vorahnung, dass es sich zurückziehen könnte und dann in unglaublicher Wucht und Entschlossenheit zurückkommen könnte.
So etwas sah ich von hier aus in der Ferne und besprach das mit meinem Liebsten und der sagte, interessehalber würde er da hinfahren und sich das aus der Nähe ansehen. Und irgendwie hab ich genau das dann auch getan. Ich saß etwas bange auf der Kaimauer und hab erstmal ganz lange zugeschaut, bis mir relativ klar war, das Meer bleibt so in etwa in seinem Bett, auch wenn es furchtbar laut herumbrettert, tost und wütet, sich selbst überbergt und untertalt und den Strand auffrisst als wäre es ein bissel schwarzer Traubenzucker. Auch wenn die Wogen vier Meter hoch werden und rasend schnell nacheinander folgen. Wiederum im Turnus von drei Stück aufs Mal, dann Luft holen.
Das Baden war gestern verboten, der Strandzugang mit einem Absperrband verschlossen, was zahlreiche Leute absolut nicht daran gehindert hat, sich – die einen sogar mit einer Horde kleiner Kinder – auf den Strand zu begeben. Wenn ich jetzt kleine Kinder hätte, wäre ich glaube ich ein besseres Vorbild. „Ach, da ist abgesperrt, also steigen wir mal drüber!“ Ne. Ich fühle, dass mir das als Mutter ein Signal von Recht und Ordnung gegeben hätte, dem ich mich in Anwesenheit meines Kindes nicht einfach widersetzen würde. So als Erwachsener, ganz allein und unbeobachtet, ist es anders.
Aber gestern saß ich jedenfalls brav an der Grenze des Verbotenen und holte mein Malzeug heraus. Das Wasser wollte sich nur wässrig aufgelöst, unfixierbar, struktur- und regellos zu Papier bringen lassen. Egal, wo ich ansetzte, sagte es mir: es könnte aber auch ganz anders sein. Da wo ich gerade dunkel bin, bin ich im nächsten Moment weiß, da wo ich gerade gischte, bin ich gleich eine Milliarden Tonnen schwere feste Wasserwand. Da wo ich gerade glatt bin, werde ich gleich strudeln und neeren, und da wo ich gerade schäume und sprudele, da werde ich gleich zu knallhartem Beton. Entsprechend ist auch mein Bild eine Auflösung alles Gesehenen in Undefinierbarkeit geworden.
Ein paar Leute hatten sich in einer größeren Gruppe direkt ans Wasser auf Decken gesetzt und picknickten dort oder so. Ich muss sagen, es war mir irgendwie eine gewisse kleine Befriedigung, dass die Brecher sie plötzlich total durchnässten und sie mit Sack und Pack völlig übereilt das Weite suchen mussten.
Im Anschluss gönnte ich mir ein bodenständiges Essen, Spaghetti Bolognese beim Italiener, die sich aber auch in Unkenntliches auflösten und wenig handfeste Erinnerung an Gehabtes in sich bargen. In meinem Kopf tobte noch immer der Kampf mit dem offenen Tor aus Absatz zwei, und ich telefonierte mit meinem Liebsten, bis der Akku uns schied. Eine Entscheidung konnte mir das nicht einbringen.
Nach der großen Abendmeditation war ich erstaunlich müde, wahrscheinlich immer noch Überhang an Ungesundheit von neulich. Oder das Gefühl, etwas beschließen zu müssen und gerade nicht zu wissen, was ich tun sollte.
Parallel dazu erhielt ich dann von Jarka, die ihrerseits auf die Kräfte des Universums vertraut, die Information, dass sie wirklich einen Platz im Kroatienkurs erfolgreich bekommen und sogar eine zweite Reise auf die Kanaren demnächst gebucht hat, obwohl sie noch nicht mal um Urlaub angefragt hatte, einfach weil sie das Gefühl hat, sie soll. So könnte das mit dem Manifestieren klappen, wenn es perfekt läuft! Allerdings gab es nur Flüge nach Teneriffa. Mal sehen, was das nun wiederum bedeutet. Und heute schreibt sie, ihr Chef gibt ihr erst morgen Bescheid, ob sie den Urlaub kriegt. Übermorgen in aller Herrgottsfrüh ist aber schon ihr Abflug. Puh.
Heute dann beschloss ich, meinen Füßen wieder etwas mehr zuzutrauen, da sie momentan wieder einigermaßen laufen können, und machte mich auf den Weg ins Dorf über die Treppenflucht nach unten. Bin ja ganz oben am Hang, da wo es nirgendshin mehr weiter geht, und von dieser Straße aus führen diverse Treppengassen schnurstracks nach unten mit vielen Dutzenden von Treppen. Ich kam bei der Tourist Information heraus und stellte im Gespräch fest, dass ich eigentlich alles in der direkten Umgebung, was die Dame für sehenswert erachtete, gesehen habe.
Dann wollte sie mir einen Tagestrip schmackhaft machen, mit dem ich den gesamten oberen Teil der Insel in einem Tag sehen könnte. Ich sagte – Moment – ich hab noch 2 bis 3 Monate, aber sie legte es immer wieder drauf an, mir alles in kürzester Zeit aufzuoktroyieren. Das ist ja überhaupt nicht mein Ding. Ich überlege vielmehr, ob ich nicht da hoch fahre und schaue, wie weit ich entdecken mag, ohne Plan und Zeittaktung, und evtl. irgendwo ein Zimmer für eine Nacht nehme, um nicht wieder umkehren zu müssen. Ihr wisst schon, Tausende von Serpentinen.
Ja, aber man kann das in einem Tag machen! – OK, das glaube ich ja, aber muss ich das denn? Ich will den Weg genießen, es geht mir nicht um das Ziel!
Schließlich landete ich dann unten in einem Hängesessel in dem Café vom ersten und zweiten Tag, wo es die unsäglichen Schlemmereien gibt. Der Kellner erkannte mich auch sofort als Freundin von Judith. Natürlich spielte ich dann Judiths Spielchen mit ihm weiter – wie schlecht und schrecklich alles ist, auch sein Essen, weswegen ich ihm noch mal eine Chance geben muss, es ein andermal doch besser zu machen. Heute „misslangen“ ihm die Eier Benedikt vortrefflichst, äh ich meine grässlichst. Ich bin ja kein Eierfan, und halte mich fern von schwammigem Eiinneren, aber die wollte ich jetzt doch mal ausprobieren, und wenn man genug von der grandiosen Sauce drüber deckt, sieht man auch nicht, was man da isst, und geschmacklich war es einfach lukullisch. Äh, schrecklich. Naja. Euch darf ich ja die Wahrheit sagen. Also echt mega gut.
Danach stolperte ich zufällig in den Laden der Freundin von Judith und hatte ein nettes Gespräch mit ihr, sie umarmte mich sogar, als ich ging, wie nett! Und wusste auch meinen Namen. Im Anschluss kuckte ich mal in den Silberschmiedeladen hinein, der sich daneben befindet. Mir sind vor ein paar Jahren zwei meiner Lieblingsschmuckstücke aus meiner eigenen Wohnung geklaut worden, und ich vermisste diese beiden unendlich. Für eines davon bekam ich von meinem Schatz Ersatz geschenkt. Das andere geht mir immer noch ab. Ich habe damals dafür auf Mykonos ungefähr 35 DM bezahlt. Es hat aber einen ideellen Wert für mich. Hier wollen sie nun 520 Euro, um es zu rekonstruieren. Alternativ kann man sich überlegen, nach Mykonos zu fliegen und dort nachzuschauen, ob man Entsprechendes fände. Jetzt habe ich Zeit, in mich zu gehen. Womöglich noch 2 Monate länger. Ich bitte um Erhellung… Vielleicht gibt es ja auch einen Silberschmiedekurs, wo man sowas selber lernen kann… Ich glaube, auf dieser Insel ist alles möglich.
© 2024 Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.
Schreibe einen Kommentar