Nachdem ich heute schon fast einen schriftlichen Eilantrag per Einschreiben und Rückschein gestellt hätte, wurde mir dann doch eine Begehung der Dachterrasse bewilligt. Mit Kommentaren und amüsanten Anekdoten. Nun kann ich nicht mehr nach Abreise der Gastgeberin sagen, mir gefiele es hier nicht, denn ich hätte es mir ganz anders vorgestellt. Das hab ich mir jetzt gründlich vermasselt. Mein Geld könnte ich jetzt also auch nicht zwecks Vorspiegelung falscher Tatsachen und Katze-im-Sack-Verkauf zurückverlangen.
Und ehrlich gesagt, gibt es auch keinen Grund dafür. Es ist auch nach Besichtigung der Dachterrasse noch schön hier! Von dort hat man einen herrlichen Blick über die Dächer und kann auf einem Tagesbett direkt unterm Baldachin träge beobachten, wie einem die Welt zu Füßen liegt. Shavassieren nennt die Gastgeberin Judith das Flachliegen, abgeleitet von der Yogaübung Shavasana, einer „sauschweren“, da komplett unverkrampften Rückenlage-Figur.
Zum Frühstück wurde mir heute ein selbstgezauberter dunkelroter Fruchtmixcocktail mit Drachenfrucht kredenzt, der löblichen Geschmackes war. Selbst besorgt hatte ich mir eine Creme Caramel und eine Cherimoya, die ich 1996 in der Schwangerschaft in München entdeckte und stetig nachkaufte. Mir ging es also auch heute morgen schon wieder bestens, und immer noch finde ich kein Haar in der Suppe, an dem ich mich strangulieren könnte, außer dass die Land Lady erklärte, dies sei ein Rahmapfel, Guayabano, der mir aus Venezuela als Smoothie bekannt war, und den ich dort sehr liebte.
Dank Google stelle ich jedoch inzwischen fest, dass es sich hier um eine andere Frucht handelt, nämlich das Baby der Stachelannone, was auch immer das wieder ist. Das sieht der Cherimoya zwar ähnlich, aber ist außen stachlig, während die Cherimoya nur Mulden auf der Haut hat. Den Guayabano finde ich auch als Guyabano und Guanabano beschrieben. Vielleicht ist das auch nicht genau deckungsgleich. Ich finde es jedenfalls herrlich, dass es noch Früchte außerhalb des deutschen Vorstellungsvermögens gibt und hoffe, dass ich noch viele schmeckenlerne!
Nun aber mein Bericht zum Vortag, bevor er in den Annalen der Geschichte zu Staub zerfällt und nie wieder überdacht wird. Gestern dachte ich, ich fahr mal rasch in die nächste Stadt. Los Llanos, 10,5 km entfernt. Interessanterweise, und das fiel mir schon beim Herweg störend auf, heißt das Los Llanos de Aridane. Als ich das so riesig über der Stadt geschrieben sah, dachte mein Klugscheixxerhirn sofort: Oh Gott, das ist mal wieder typisch, je größer geschrieben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tippfehler durchwitscht. Die Korrektoren schauen sich immer nur den Text an, nie die Überschriften. Aber hier geht es tatsächlich nicht um den Faden der Ariadne, sondern um die Ebenen des Aridane oder sowas. Llano die Ebene, lano die Wolle – als Wortspiel auch irgendwie interessant. Jedenfalls hat es mich eine Weile beschäftigt.
Meinem Handy ist das Ganze zu Kopf gestiegen, hat einen unlösbaren Knoten in ihm verursacht, und Tante Google gab mir daraufhin sehr abstruse Vorschläge, wie ich zu fahren hatte. Nach 15 Minuten sollte ich da sein. Ich hätte mir die Route auf der Karte einfach richtig anschauen sollen, aber stattdessen fuhr ich frohgemut den Anweisungen nach, die mein Handy aussprach. Es hätte mich stutzig machen sollen, dass es innerhalb kürzester Zeit mindestens fünfmal Korrekturen vornahm und erst recht, als es mich mehrmals in eine Straße abbiegen lassen wollte, wo überhaupt weit und breit keine war. Irgendwie kam es mir dann doch sehr merkwürdig vor, wie es mich plötzlich in Lavafelder manövrierte, die gar nicht enden wollten. Innerhalb dieser Felder gingen dann vereinzelt Straßen den Hang hoch, und eine von denen, abseits jeder übriggebliebenen Zivilisation wurde ich hochgelotst. Dann befand ich mich mitten in einem unerquicklichen grauschwarzen Trümmerfeld und hatte angeblich nach etwa 20minütiger Fahrt mein Ziel erreicht. Wer beschließt das? Google? Der Internetanbieter? Die Insel? Die Vulkanenergie? Mein egozentrisches Universum?
Empört drehte ich um, und fuhr wieder dieselbe Schotterpiste bergab, woraufhin das Navi sich derrappelte und mir dann einen Weg von 18 Minuten vorschlug. Nach einiger Zeit wurde mir bewusst, dass ich die auf Schildern genannten Ortsnamen auf dem Herweg alle nicht gesehen hatte, dabei war ich ja am Tag der Ankunft doch über Los Llanos gekommen. Also hielt ich mal an, und stellte dann fest, dass ich völlig wo anders gelandet war, in absolut falscher Richtung.
Nun gut, wenn man einmal um die Erde herumgurkt, kommt man ja auch wieder am Ausgangsort an bzw. an dem Ort, der in der Gegenrichtung vor dem Ausgangsort käme. Vielleicht war es so gedacht. Ich müsste das Handy allerdings darauf hinweisen, dass da eine nicht unbeträchtliche Menge Ozeans dazwischen liegt, dem es vielleicht auf Dauer nicht so gewachsen wäre. Es hält laut Hersteller nur bis zu 30 Minuten in 1,5 m tiefem Süßwasser aus. Erstens ist das Meer generell leicht bis heftig salzig…
Ich habe also umgedreht, und Tante Google dadurch wohl in noch extremere Bedrängnis gebracht, denn sie widersprach sich in ihren Anweisungen nun eher zehnsekündlich von „bitte wenden“ bis „der Route 8 km weit folgen“ und dann wollte sie mich nach 200 m doch plötzlich abbiegen lassen. Schilder nach Los Llanos hier Fehlanzeige. Irgendwie musste es wohl genau so sein. Ich durchfuhr weiterhin die Lavafelder, die dräuend, lebensfeindlich und beängstigend weitläufig alles unter sich begraben haben. Und dann sah ich mich Auge in Auge mit ihm, dem Master of Desaster! Gestatten, sein Name ist Neuer Vulkan, Tajogaite, auf dem Alten Höhenrücken (Cumbre Vieja).
Unter seinen Kollegen, den grünbewaldeten Bergen sieht er aus, wie ein ehemals gefährliches Furunkel, dessen Eiter abgelaufen ist. Die Haut rundherum ist leicht bis mittelschwer gerötet, die Behaarung abgeschilfert, der Eiterhort geleert, aber nicht verschlossen, sondern hier starrt einäugig eine tiefe, augapfellose Augenhöhle gen Meer. An sich sollte man meinen, das wäre ja nur ein kleines Kraterchen, da gäbe es durchaus höhere Berge in der Gegend, von denen man größeres Unheil erwarten könne. Aber Skorpione sind z.B. ja auch gefährlicher als Tauben. Der schwarze Körper des verwüsteten Gebiets rund um den klaffenden Schlund hat an manchen Stellen begonnen, wieder neuen grünen Haarwuchs zu bekommen. Unkrautbüschel erarbeiten sich frech ein neues Habitat. Wir waren zuerst da, schreien sie in hellgrüner Grelle und trotzen flexibel dem Bodenwind, der den pechschwarzen Staub über sie hinwegjagt. Andernorts wurden entlang der Straße Palmen aufgeforstet, als entstünde hier eine Prachtallee mitten durch ein Nobelviertel, und nicht mitten in der schwarzbrockigen Pampa.
Ich verneigte mich also ehrfürchtig in meinem sicheren Fahrzeug vor dem Vulkan mit seiner unheilvollen Höhlung und bat ihn, mir nicht zu grollen, dass ich mich in sein Umfeld gewagt hatte. Vermutlich war er es ja wohl, der mich gerufen hatte, denn als ich später meine Odyssee schilderte, meinte man, ein solches Fehlverhalten von Google sei hier eigentlich nicht ortstypisch, wohingegen ich vermutet hatte, dass das Netz vielleicht so schlecht sein könnte, dass eine genaue Verortung des Aufenthalts in diesem Bereich nicht möglich sei. Nein, anderen Leuten passiere nicht dasselbe. Der Vulkan wollte also was von mir. Wiewohl ich im letzten Bericht noch angekündigt hatte, ihn in Frieden schlummern lassen zu wollen.
Nachdem ich Los Llanos endlich gefunden hatte und nicht unbedingt begeistert von meinem Fundstück war (es war auch gestern ein eher grauer Tag, und die Läden waren aufgrund der Siesta fast alle zu, als ich ankam), fand ich eine Tourist Information, zu der man von der Straße aus ausschließlich mit einem Lift in den Untergrund, direkt neben einer öffentlichen Bedürfnisanlage, Zugang hatte. Ich ließ mich detailreich über alle sehenswerten Orte auf der Insel aufklären. Insbesondere wurden da genannt: Strände, Strände und nochmals Strände. Dann noch Strände, die man nur durch eine Wanderung erreichen konnte. Die habe ich sofort gestrichen, da mein fersengespornter Fuß und mein titanverstärkter Rücken (und mein unmotiviertes Alles) da nicht mitmachen.
Des Weiteren gibt es hier als Spezialität zu besichtigen, man lese und staune: Vulkane. Ach ne! Wer hätte das gedacht! Es gibt Aussichtspunkte auf deM Vulkan, solche auf deN Vulkan, auf eineN alten Vulkan und in eineM alten Vulkan. Und es gibt Vulkanwanderungen zu Hauf. Naja, ebenfalls gestrichen. Dann gibt es ein archäologisches Museum und ein Mojo Museum. Das betrifft Mojo rojo oder Mojo verde, Saucen, die das Essen verfeinern oder verunmöglichen, je nach Schärfegrad. Vielleicht gibt es ja noch mehr Museen, aber da der Herr hinter mir sehr hörbar aufstöhnte, als ich nochmal zu weiteren Fragen ansetzte, beließ ich es mal vorläufig dabei und ließ ihm auch eine Chance, seinen eigenen Wissensdurst zu stillen.
Nachdem die Läden endlich geöffnet hatten, erstand ich dann noch eine Simkarte mit 100 GB für nur 20 Euro, ein Schnäppchen, würde man meinen, und somit ist das Internet jetzt erstmal gesichert. Alles meins! Na gut, 10 Megabyte auch für Dich, hier bitteschön! (Mit gönnerhafter Miene).
Im Anschluss erledigte ich einen Großeinkauf im örtlichen Lidl-Markt, der natürlich spanische Schätze birgt, die mit dem deutschen Sortiment wenig gemein haben, was ich als durchaus vorteilhaft empfinde, aber was mich natürlich teuer zu stehen kam. Und ich hatte auch etliche Tüten voller Futter zusammengestellt, wohl auch der Tatsache geschuldet, dass ich ziemlich hungrig war. Da kauft man ja alles, was einem irgendwie essbar erscheint und hat sooo viele Ideen, was man alles mit den Köstlichkeiten anstellen könnte.
Auf dem Rückweg nach Tazacorte ließ sich Tante Google weitere nette Scherze einfallen, aber immerhin konnte ich mich noch vage daran erinnern, dass es etwas näher am Meer lag, als was sie mich glauben lassen wollte („in 200 m haben Sie Ihr Ziel erreicht“, und das mitten am Berg). Somit gelang es mir, dann mit einigen weiteren Irrungen nach Hause zu finden.
Ach ja, mittags waren wir ja erneut in dem Lokal von gestern gewesen, um auch diesmal festzustellen, wie grauenerregend schlecht das Essen ist. Diesmal trafen wir eine Freundin meiner Land Lady und speisten unübertrefflich dekorative Pfannkuchen in Soufflé-Optik mit Beeren, dazu gönnte ich mir ein grünes Getränk aus Kräutern und Gurke, das einen herrlichen Farbkontrast bot.
Hier zeigte sich dann noch, dass die Insel ihre magischen Ariadnefäden an die Menschen gebunden hat, die einmal hier waren und immer wieder kehren, auch nach Jahren lässt es sie nicht los. Ein Amour fou. Man kann auch nicht sagen, wider besseres Wissen müsse man immer wieder hier sein. Es ist halt einfach schön hier. Die Leute sind beim ersten Mal drei Monate hier. Und beim nächsten Mal sechs. Und dann ziehen sie her als Neueingesessene und wachsen in die eingeschworene Gemeinde der Einnistpalmeros hinein. Gehen dann ein paarmal im Jahr nach Ehemals-Hause, oder mal zwei Jahre nach Guatemala. Und dann ist die Insel wieder dran. Mal sehen, was das mit mir macht. Zu verzeichnen ist auch eine rein äußerliche Veränderung als Spiegel des Inneren. Sprich: das Äußere wird wilder, authentischer, einzigartiger, entspießert, entnormt.
Wenn Google mich öfter hier so herumführt, werde ich mich über kurz oder lang selber orientieren können und ein Gefühl für vorn und hinten, Nord und Süd entwickeln, auch an sonnenbefreiten Tagen, und das Ziehen der Heimat verspüren. Welche auch immer das dann sein wird.
PS: Die Freundin („Ich bin ja Vulkanopfer“ – ich denke, da werde ich in Zukunft noch nachfragen) las gerade in einem Buch, dass Menschen, die es auf Inseln zieht, meist traumatisierte Menschen seien. Sie suchten einen Zufluchtsort, an dem die Winde und die Brandung sie von ihren traumatischen Erlebnissen befreien, sie reinwaschen. Vielleicht ist das ja ein Grund, warum ich hier bin.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.
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